Als Inobhutnahme bezeichnet man die vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer Notsituation durch das Jugendamt. § 42 SGB VIII regelt dies. 2020 stieg die Zahl dieser letzten Maßnahme des Kinderschutzes in Sachsen-Anhalt um 11 % zum Vorjahr. 1401 Kinder und Jugendliche mussten zu ihrem Schutz in Obhut genommen werden. Mehr als die Hälfte der Fälle, nämlich 57,7 %, erfolgte auf Anordnung des zuständigen Sozialen Dienstes oder Jugendamtes. Stadtrat Dr. Detlef Wend ist Kinderarzt und nimmt das Problem sehr ernst.
„Früher Schutz von Kindern. Das bringt es auf den Punkt. Diesen brauchen wir und wir sollten alles dafür tun, dass er besser wird. Das Problem ist, wir investieren unsere finanziellen Mittel gerade an der falschen Stelle. Wir geben jährliche achtstellige Beträge in Halle in die Hilfen zur Erziehung, zu denen die Inobhutnahmen gehören, Präventionsangebote sind jedoch chronisch unterfinanziert. Zudem ist es nicht so einfach diese effektiv umzusetzen. Es gibt viele Familien, die mit den Anforderungen des Alltags und der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Nun ist die Frage wem und wann fällt es auf? Und wann und wie intensiv soll eine Unterstützung einsetzen? Leider lehrt uns die Realität, dass sehr oft zu spät geholfen wird. Oft ist das Kind im wahrsten Sinne des Wortes bereits in den Brunnen gefallen. Woran liegt das? Zum einen ist es eine delikate Sache in private, familiäre Strukturen einzugreifen. Bei einem Hilfsangebot schwingt auch immer die Unterstellung mit, da mache jemand etwas nicht gut, nicht richtig. Daher wird oft erst interveniert, wenn bereits katastrophale Zustände herrschen. Eine intakte Familie ist der beste Ort für ein Kind, aber wir verschließen zu oft die Augen vor der Tatsache, dass es Familien gibt, die Kinder bedrohlich vernachlässigen oder sogar seelisch und körperlich misshandeln. Unsere Sozialgesetzgebung fordert die Kommunen auf, faire Entwicklungschancen für alle Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Dies leisten wir zur Zeit leider nicht. Für wirkliche Verbesserungen brauchen wir dringend mehr Personal“
Leider herrscht seit Jahren ein Fachkräftemangel. Die Jugendämter in Halle (Saale) sind unterbesetzt. Schulsozialarbeiter*innen an halleschen Schulen arbeiten schon lange an ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus. Anträge von Schulen für Schulsozialarbeit werden abgelehnt, obwohl Problemlagen bestehen. Viele Schulen stellen nicht einmal einen Antrag, obwohl eine Begleitung notwendig wäre. Den Kindertagesstätten im Stadtgebiet fehlt es nicht nur an Personal, sondern auch an fachlich geeigneten Sozialerbeiter*innen, die familiäre Probleme frühzeitig identifizieren und sich derer sofort annehmen können, bevor diese größer werden. Diese Beratungs- und Unterstützungsleistungen gehören zu den wichtigen Bausteinen einer erfolgreichen Präventionsarbeit.
Derzeit erarbeitet die Verwaltung die finanzielle Untersetzung des städtischen Präventionskonzeptes. Das bedeutet: wir haben zwar Ideen und sogar ein Konzept, um bessere Präventionsarbeit für Familien zu leisten, aber wir haben für viele der Maßnahmen kein Geld. Hier muss dringend auf allen politischen Ebenen nachgebessert werden, damit wir einen Systemwechsel weg von der Folgenbekämpfung hin zur vorbeugenden Begleitung von Familien hinbekommen. Alleine wird die Stadt Halle (Saale) diesen Prozess nicht schaffen. Das ist die traurige Realität der Familienpolitik im Land Sachsen-Anhalt.
Dr. Detlef Wend: „Erwachsene haben immer ein Stück Eigenverantwortung für ihren Lebensweg, Kinder dürfen nicht dafür in Haftung genommen werden in welches Nest sie purzeln. Ein faires Miteinander in der Gesellschaft verpflichtet uns zur Unterstützung benachteiligter Lebenswege vom ersten Schritt an. Ansonsten zahlen wir eine Zeche moralisch wie finanziell, höher als wir es uns träumen lassen!“